Von C.M. Mayo
Übersetzt aus dem Englischen von Rebecca DeWald
(Die englische Fassung dieses Essays ist in der Sommerausgabe 2017 des Catamaran Literary Reader erschienen; die Spanische Fassung wurde in Letras Libres veröffentlich.)
Historische Romanciers, so wie ich, beschäftigen sich gewissermaßen mit Fragen der Wiederauferstehung. Aber wen bzw. was genau holen wir denn aus dem Jenseits zurück ins Leben? Können diese Figuren, die unserer Vorstellung entsprungen sind, dabei aber auf tatsächlichen Menschen aus Fleisch und Blut beruhen, von den Buchseiten auferstehen, einen eigenen Willen entwickeln und ihre Schöpfer heimsuchen, wie die Tulpas der tibetischen Esoterik? Ich muss zugeben, Maximilian von Habsburg, der Erzherzog von Österreich, dessen Leben und damit auch Herrschaft als Kaiser von Mexiko vor 150 Jahren in Querétaro vor einem Erschießungskommando ein Ende fanden, und der zu einer Figur in meinem Roman The Last Prince of the Mexican Empire beruhend auf der wahren Geschichte von Agustín de Iturbide y Green wurde, sucht mich tatsächlich heim.
Es fing alles damit an, dass die „Tulpa Max“, wie ich sie nannte, kurz nach der Veröffentlichung des Romans – die nun so viele Jahre zurückliegt, dass ich aufgehört habe, sie zu zählen – einen Schwall an Leserbriefen hervorrief, der auch heute noch regelmäßig meinen E-Mail-Posteingang füllt:
Hatte ich die Alebrije-Skulptur „Amor por México, Maximiliano y Carlota“, diese riesige tierähnliche Fantasiefigur gesehen, die Maximilian und Charlotte von Belgien gewidmet war?
Glaubte ich der These, dass Maximilian ein Freimaurer war?
Was hielt ich von der Legende des Justo Armas? Konnte er wirklich in Wahrheit Maximilian sein, der dem Erschießungskommando entkommen war und ein neues Leben in El Salvador begonnen hatte?
Maruja González, eine Leserin aus San Miguel de Allende, die mit einem meiner Bekannten befreundet ist, schickte mir freundlicherweise eine Anekdote und das Rezept für einen Nachtisch, den ihre Vorfahrinnen Maximilian bei seinem Besuch in der Stadt 1864 serviert hatten. Die Geschichte durfte ich auf meinem Blog hier veröffentlichen. Außerdem hatte Maximilian im Haus ihrer Ururgroßeltern übernachtet.
„… und dort bereiteten sie ihm ein überaus feierliches Bankett mit Musik und Solisten. Sämtliche Damen, mit ihren wohl frisierten Haaren, bedauerten sehr das Fehlen der Kaiserin Charlotte – Carolita, wie sie sie bereits zärtlich nannten. Die Damen der obersten Riege der feinen Gesellschaft von San Miguel wetteiferten miteinander, wer die aufwendigsten, raffiniertesten und exquisitesten Delikatessen zubereiten könne. Eine meiner Ururgroßtanten hatte dabei die Ehre, dem Monarchen Birnen in Sirup zu kredenzen, der dieses wunderbare Dessert aufs äußerste lobte …“
Eine E-Mail wie aus dem Jenseits, die wortwörtlich mit Grabsteinen zu tun hatte, wurde mir von Jean Pierre d‘Huart geschickt, dem Urgroßneffen eines Offiziers, der 1866 durch einen Kopfschuss an der Fernstraße bei Río Frío starb. Sein Urgroßonkel war ein hochrangiger Offizier in der Delegation gewesen, die nach dem Tod von Charlottes Vater König Leopold von Belgien und nachdem ihr Bruder als Leopold II (ja, genau der, der für die „Kongogräuel“ verantwortlich war) den Thron bestiegen hatte, nach Mexiko gekommen war. Ein so schamloser Banditenangriff auf das königliche Gefolge auf der Fernstraße – einer Hauptverkehrsader zwischen Mexiko-Stadt und Veracruz, dem Tor zu Europa – wurde damals wie heute, in Mexiko und im Ausland, als Wendepunkt in Maximilians Herrschaft gewertet und als Vorbote ihres nahenden Endes. Der Briefschreiber teilte mir behutsam mit, dass ich in meinem Roman falsch gelegen hatte. Der Baron d‘Huart, der bei Río Frío umgebracht worden war, war nicht Charles, der damals dem französischen Kaiserheer in Mexiko gedient hatte, sondern sein entfernter Cousin, Frédéric Victor. Anbei schickte mir Jean Pierre eine im belgischen Tintigny aufgenommene Fotografie dessen Grabsteins, mit Weinreben umrankt und am Sockel mit Moos überwachsen.
Die E-Mail, die mich von meinem Freund Eduardo Wallentin erreichte, ähnelte aber schon einer Edgar Allan Poe-Gruselgeschichte. Darin schickte er mir die spanische Übersetzung, die sein Vater Dr. Roberto Wallentin von einem ungarischen Zeitungsartikel von 1876 eines Dr. Szender Edes angefertigt hatte. Historikern wird der Name „Dr. Szender Ede“ bekannt vorkommen: Er war es, der Maximilians Leichnam durch seine Einbalsamierung grotesk gerichtet hatte. Dr. Szender Ede erzählt darin:
„Während und nach meiner Einbalsamierung baten mich viele Leute um persönliche Gegenstände des Verstorbenen. Meines Wissens nach hatte er während seiner Gefangenschaft in Querétaro sämtliche Habseligkeiten über verschiedene Personen an seine Verwandten geschickt. In seinem Zimmer war einzig das eiserne Bettgestell geblieben, auf dem er schlief. Dr. Rivadeneyra hatte Dr. Basch versichert, dass der Kaiser ihm eben dieses versprochen hatte, also genehmigte Dr. Basch guten Glaubens, ihm das Bettgestell zu „überlassen“. Gleichzeitig betrieb Dr. Licea ein reges Geschäft (worüber auch die mexikanische Presse berichtete) mit Gegenständen, die ihm zufolge Maximilian gehört hatten. Ich behielt ein paar Haarsträhnen Maximilians, von denen ich die meisten meinen Freunden in San Luís Potosí schenkte.“
Die Tulpa Max regte neben (hauptsächlich freundlichen) Kommentaren aus den Tiefen des World Wide Web aber auch so manche schneidende Bemerkung an. Letztere belegen – was mich nicht allzu sehr überraschte – dass viele Mexikaner der festen Überzeugung sind, eine Autorin, die einen Roman veröffentlicht, in dem Maximilian eine Rolle spielt, voll und ganz vom Charme und der altmodischen politischen Grundhaltung des rotbärtigen Adligen eingenommen sein musste. Offensichtliche haben diese Menschen mein Buch nicht gelesen, in welchem ich Maximilian (beruhend auf seiner umfassend dokumentierten Lebensgeschichte) als einen Menschen darstelle, der durchaus zu starrköpfiger Herzlosigkeit in der Lage ist. Dies zeigt sich insbesondere in seinem Umgang mit der Mutter von Agustín de Iturbide y Green, einer jungen Amerikanerin und, im Erlass des ‚Schwarzen Dekret‘ (Bando Negro), wodurch Zivilisten, die im Besitz von Waffen waren, ohne Gerichtsverhandlung erschossen oder gehängt werden konnten – ganz zu schweigen von seiner Wiedereinführung der Sklaverei. Zugegebenermaßen bringe ich so viel Einfühlungsvermögen wie möglich für meine Darstellung von Maximilian auf, wobei Einfühlungsvermögen – mit dem Herzen sehen und mitfühlen – die wichtigste, beste und mächtigste Fähigkeit eines Romanciers ist und nicht unbedingt auf einer Rechtfertigung der Handlungen und Gedanken der Romanfigur beruht.
Man kann auf unterschiedliche Weise reich genug werden, um sich eine Jacht leisten zu können. Romane schreiben gehört meist aber nicht dazu – außer man heißt J. K. Rowling. Die mit Abstand größte Belohnung, die ich für die Wiederbelebung von Maximilian erhalten habe, ist die Fülle an Möglichkeiten für „das Fest der Vernunft und den Fluss der Seele“. Ich zitiere hier frei nach dem englischen Poeten Alexander Pope, denn hätte Maximilian bestimmt auch die Tête-à-Têtes mit Lesern, Schiftstellerkollegen und Forschern beschrieben, die sich für diesen exotischen, blutrünstigen, verschachtelten und international umkämpften Abschnitt mexikanischer Geschichte interessieren.
Deshalb muss ich mich bei meiner Tulpa Max für die Spritztour durch Querétaro mit Schriftstellerin Araceli Ardón bedanken. Und für ein Mittagessen im Zona Rosa-Viertel von Mexiko-Stadt mit den Historikern Amparo Gómez Tepexicuapan und Michael K. Schuessler, bei dem wir – bei Frühlingsrollen und Garnelen süßsauer, meine ich mich zu erinnern, sowie einem leichten Erdbeben zwischendurch – über Maximilians Dekrete auf Nahuatl, seinen Gärtner Wilhelm Knechtel und den Besuch des indigenen Kickapoo-Volkes 1865 sprachen.
Weil ich wusste, wie faszinierend und unterhaltsam ein Gespräch mit dem mexikanischen Historiker Alan Rojas Orzechowski sein wurde, interviewte ich ihn für meinen Blog zu seiner Forschung über Maximilians Hofmaler Santiago Rebull, der später Diego Rivera unterrichten solle. In Guadalupe Loaezas Radiosendung sprach ich mit ihr und Verónica González Laporte über Maximilians Bälle im Kaiserpalast, Charlottes geistigen Zustand und das seltsame Paar François-Achille Bazaine, Marschall von Frankreich, und seine Frau Pepita de la Peña.
Außerdem kam es zu einem unvergesslichen Augenblick auf der kühlen, mit Pflanzen übersäten Terrasse des mexikanischen Geschichtsinstituts, Centro de Estudios de Historia de México, in Chimalistac, als ich per Zufall mit Luis Reed Torres ins Gespräch kam über einen zu Unrecht in Vergessenheit geratenen General Maximilians, Manuel Ramírez de Arellano, der dem Erschießungskommando entkam, um dann in Italien einem Fieber zu erliegen.
Ich fuhr nach Puebla, nur um mit Wonne Margarita López Canos Vortrag über Bellini- und Verdi-Opernaufführungen zu Zeiten Maximilians beizuwohnen.
Am deutlichsten bleibt mir aber ein ganzer Nachmittag mit Guillermo Tovar de Teresa im Gedächtnis, den wir in seinem alten (bestimmt von Geistern bewohnten) Haus in Colonia Roma verbrachten, an einem Tisch mit Spitzentischdecke, während der Regen ans Fenster prasselte. Ich hatte schon immer den Autor des wundervollen Buches über Mexiko-Stadt, La ciudad de los palacios (Die Stadt der Paläste) treffen wollen. Wir unterhielten uns bis zum Einbruch der Dunkelheit über Maximilian, die Iturbide-Familie, Präsident Miguel Miramón und die seltensten Buchraritäten.
Apropos seltene Bücher: Meine handsignierten Ausgaben von Konrad Ratzs Büchern liegen mir besonders am Herzen. Bis zu seinem Tod 2014 erforschte der österreichische Historiker unermüdlich das Leben und die Regierungsweise Maximilians. Es war eine große Ehre, sein und Amparo Gómez Tepexicuapans Buch Los viajes de Maximiliano de México (Ein Kaiser Unterwegs: Die Reisen Maximiliians von Mexiko 1864-1867 nach Presseberichten und Privatbriefen) in einer sternenklaren Nacht vorzustellen, und zwar an keinem geringeren Ort als dem Schloss Chapultepec.
Die Tulpa Max, die nichts mehr liebt als Geschichten über sich selbst erzählt zu bekommen (selbst als vertrockneter Leichnam mit Glasaugen einer Madonnenstatue in den leeren Augenhöhlen und gebrochenen Beinen, um in den Überseekoffer zu passen) steht nun ein wenig aufrechter da. Max‘ Wangen haben wieder etwas Farbe angenommen und seine Augen strahlen hell und klar wie die eines Fuchses. Er streicht sich mit der Hand im Handschuh durch den Bart und atmet eine Brise ein von der er wünschte, sie wehe vom Meer her. Doch er riecht nur den bescheidenen Duft meiner Tasse Kaffee. Keinen Knoblauch. Noch nicht.
Wenn Sie mich aber nun entschuldigen würden, liebe Leser, ich muss mein E-Mail-Postfach nach Leserbriefen durchstöbern.
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C.M. Mayo ist Autorin des Romans The Last Prince of the Mexican Empire (Unbridled Books), den das Library Journal zu den besten Büchern des Jahres 2009 zählte. Die spanische Übersetzung von Agustín Cadena erschien 2010 bei Random House Mondadori-Grijalbo unter dem Titel El último príncipe del Imperio Mexicano.